Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu, wurde aber heute anlässlich einer Situationsbeschreibung der Medizin in Deutschland von der WELT wieder ausgegraben. Unter der Überschrift „Der Arzt hört nur 18 Sekunden zu“ wird aufgezeigt, dass „Nach durchschnittlich 18 Sekunden […] der Arzt den sein Anliegen schildernden Patienten“ unterbricht.
Die Überschrift des Artikels impliziert, dass nach 18 Sekunden nur noch der Arzt redet und nur in diesem kurzen Zeitraum für den Patienten die Chance auf Schilderung seiner Beschwerden besteht.
Gespräche sind Dialoge und keine Einbahnstraße
Auch ein nichtärztliches Gespräch ist normalerweise als Dialog angelegt und demzufolge ist es auch in der Alltagsunterhaltung nicht unüblich, dass bereits nach kurzer Zeit auch der andere Gesprächspartner das Wort ergreift. Dies sollte daher auch in der Kommunikation des Arztes mit einem Patienten selbstverständlich sein.
Das Patienten-Arztgespräch ist kein Kaffeeklatsch
Es ist nachvollziehbar aus Patientensicht eine unschöne Vorstellung, mit seinen Ängsten so unter Zeitdruck zu stehen. Schließlich geht es um die Wiederherstellung seiner Gesundheit. Darum geht es dem Arzt jedoch ebenso. Und das ist auch der Grund, weshalb der Gesprächsfluss des Patienten oft bereits zu einem so frühen Zeitpunkt unterbrochen wird.
Der Dialog des Patienten mit einem Arzt gilt also der Eingrenzung möglicher Diagnosen, deren Symptome vom Patienten meist (und naturgemäß) unstrukturiert in Form von Befindlichkeitsschilderungen geäußert werden. Da dies meist eher weniger zielführend ist, ist es am Arzt, dem Gespräch die Struktur zu geben, die zum Erreichen des Ziels (Diagnose) benötigt wird.
Schildert ein Patient z. B. ein seit Tagen bestehendes Ziehen im Bauch, dann könnte der Arzt sich selbstverständlich erst einmal 5 Minuten die detaillierte Beschreibung dieser Symptome anhören. Zielführender ist es jedoch, wenn er Zwischenfragen stellt, welche die zugrundeliegende Problematik enger einzugrenzen hilft. Also nach Tageszeit, Abhängigkeit von Nahrungsaufnahme, genaue Lokalisation, Stuhlgang und dessen Beschaffenheit etc.
Und aus den Antworten auf diese Nachfragen ergeben sich idealerweise die Informationen, die dann zu einer konkreten Diagnose und Therapie führen.
Ist die Gesprächsdauer ein Zeichen von Empathie?
Und ist die Empathie (=Einfühlungsvermögen) ein Zeichen für eine gute Behandlung oder für die Qualität des Behandlers?
Jeder Arzt kommt in Gesprächssituationen, in denen schnell klar wird, dass sich der Patient etwas von der Seele reden muss und die Probleme nicht rein somatischer Natur sind. Und trotz des eng getakteten Zeitplans, dem ein durchschnittlicher Kassenarzt üblicherweise unterliegt, wird diesen Anforderungen auch Rechnung getragen.
Jedoch kann diese Empathie nicht zweckfrei sein. In der überwiegenden Zahl der Behandlungssituationen hat es der Arzt mit konkreten Beschwerden zu tun, die mit einer „Gesprächstherapie“ nicht behandelbar sind. Deswegen wird echte Empathie in solchen Fällen dazu führen, dass der Arzt nach durchschnittlich 18 Sekunden den Patienten nicht in seinem Monolog alleine lässt, sondern in einen Dialog überführt, der schließlich in einer hilfreichen Therapie münden kann.
Übrigens: Die Gespräche, die ich mit Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch führe, dauern im Falle des Erstkontakts schon mal eine Stunde. Aber auch hier nehme ich (vermutlich) nach spätestens 18 Sekunden den Dialog auf.